Der Autor Tamás Jónás im Gespräch

Tamás Jónás ist Programmierer und Dichter. Er ist Rom und Vater. Staatlicher Stipendiat und mittelloser Künstler. Leutscheu und politisch aktiv. Hat ein typisches „Zigeunerschicksal“ erlebt und es zu einem untypischen gemacht.
C.P.: In deiner Erzählung „Zigeunerzeiten“ beschreibst du deine Kindheit und fasst die Übersiedlung aus der Aussichtslosigkeit Nordungarns nach Szombathely an der österreichischen Grenze folgen-dermaßen zusammen: „Und dann hat uns ein Sturm erfasst und im Skandinavien Ungarns abgesetzt.“ Warum Skandinavien?
T. J.: Skandinavien war für mich immer so was wie das Schlaraffenland. Ein Ort, an dem die Menschen freundlichen Umgang miteinander pflegen und wo es so was wie Wohlstand gibt. In den Häusern ist es warm und es gibt reichlich zu essen. Das kannten wir in Csernely, woher ich stamme, nicht. Meine Eltern hatten Schulden gemacht und in den 1970er Jahren kamen zumindest die „Zigeuner“ dafür noch ins Gefängnis. Meine Eltern saßen ein und meine Geschwister und ich wurden ins Kinderheim gesteckt oder zu Pflegeeltern gegeben. Ich war zwei Jahre im Heim, in der „Kinderstadt“ in Miskolc, die man ohne Übertreibung als Kindergefängnis bezeichnen kann. Später war ich bei Zieheltern, die mich zum Beispiel über Nacht im Hühnerstall einsperrten, weil der „kleine Zigeuner“ unartig gewesen war. Nachdem meine Eltern freigelassen worden waren, erkannten sie, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, egal, was sie machten. Dann kam die Idee auf, einfach ans andere Ende von Ungarn zu übersiedeln. Damals konnte man als „Schwarzer“, wie wir Roma in Ungarn immer noch, ja heutzutage wieder um vieles öfter, genannt werden, nicht einfach so mit dem Zug in der Gegend herumfahren. Auch ein „Weißer“ brauchte eine Genehmigung, wenn er seinen Bezirk verlassen wollte. Wir hatten Verwandtschaft in Szombathely, deshalb konnten wir so eine Besuchsgenehmigung organisieren. Wir sind zu Besuch gekommen und einfach nicht mehr heimgefahren.
Wie ist es euch dann hier ergangen?
Besser als zuvor, aber auch nicht gut. Wir lebten zuerst in einem feuchten, muffeligen, kalten Loch. Vater fuhr weiterhin nach Budapest arbeiten und brachte zum Wochenende immer seinen Lohn nach Hause oder nicht. Abgesehen vom ständigen Hunger war die Kindheit relativ unbeschwert. Wir wohnten im „Zigeunerviertel“ von Szombathely.
Tamás Jónás Berechenbare Nüchternheit Als ich kein Kind mehr war und nicht erwachsen, schlug ich mit einem Ziegel einen Raben tot. Ein Heulen drang aus seinem Schnabel, bevor ich ihm den müden Kopf zerschlug, dann ging ich durch verschneite Gassen. Ich war bemüht, mit klarem Kopf zu töten, von Grausamkeit war nicht die Spur, ein klarer Geist wie dieser ist vonnöten, wenn du in Schränken Ordnung schaffst und Plunder fortwirfst, einen leeren Sack. Den Mond starrte ich an in großer Kälte, ich sah, alles hat Sinn, ist steif und starr. Es war zur Zeit, als ich ein Mädchen wählte, doch wusste ich, dass diese junge Liebe nicht glücklich wird, uns nicht bekommt. Es verging Winter. Sommer. Oft war Frühling. Jetzt wieder Winter und nun heule ich. Zu Worten wurde dieser Ziegelstein. Doch schlägt mir niemand meinen Schädel ein. |
Dort waren nicht nur Roma versammelt, sondern auch besonders arme Ungarn. In der Schule tat ich mir nicht schwer, in meiner Freizeit las ich viel, es war auch ein wenig Flucht aus dem Alltag. Ich hatte damals die Möglichkeit, meine Nachmittage auf dem Friedhof mit anderen Romabuben zu verbringen und Klebstoff zu schnüffeln oder Alkohol zu trinken. Ich glaube, es waren nicht Klebstoff oder Alkohol, die mich abhielten, sondern eher die Tatsache, dass die anderen Romakinder keine Lovara waren wie wir. Sie verhielten sich so anders, waren mir unverständlich fremd, verwendeten andere Gesten und gingen so völlig anders miteinander um als wir, dass ich ein wenig Angst vor ihnen hatte. Mit den Gadschekindern [Anm.: Nicht-Roma] zu spielen, war auch keine Alternative, da uns die Eltern, sobald sie uns bemerkten, vertrieben. Also blieben die Bücher. Die Bücherei entdeckte ich übrigens ganz zufällig: Ich war in irgendeinem Laden, um zwei Kipferl zu stibitzen, weil der Hunger wieder unerträglich war, und da ist mir die Stadtbücherei sozusagen über den Weg gelaufen.
Versteinerte Geschichten
Und da kam dann der Wunsch zu schreiben?
Aber was. Ich hab mich mehr für allerlei wissenschaftliche Themen interessiert als für Literatur. Literatur waren verstei-nerte Geschichten, die man sich unter den Roma, wo die mündliche Tradition noch lebte, viel interessanter und lebhafter erzählte. Ich las also allerlei, was meinem schulischen Erfolg nicht unbedingt schadete. Als dann, nach dem 8. Schuljahr, die Entscheidung anstand: Lehre oder Schule, entschied ich mich für die Lehre. Ich dachte, ich würde ein guter Kellner werden. Drei Wochen lang gaben sich dann bei uns die Lehrer die Türschnalle in die Hand, um meine Eltern davon zu überzeugen: Der Bub ist ein ganz ein Vifer, er muss unbedingt weiterlernen. Und so ging ich ins Gymnasium, was für Roma ja auch heute noch eher außergewöhnlich ist. Während der Mittelschulzeit begann ich mich dann für Computer zu interessieren. An einen eigenen Rechner war nicht zu denken, so begann ich, mir aus Büchern das Programmieren beizubringen. Ich schrieb meine Programme auf Papier.
War das Romsein in der Schule ein Thema?
Nein, überhaupt nicht. Es hat eigentlich keinen wirklich interessiert. Dass ich zu den besseren Schülern gehörte, hat sicher auch dazu beigetragen.
Hast du dich selber als Rom gesehen?
Schon irgendwie, aber dann auch wieder nicht. Es wurde zuhause bewusst kein Romanes gesprochen und es wurden bewusst auch keine Traditionen gepflegt. Alles ging in Richtung Assimilierung, „damit die Kinder es mal besser haben“. Diese Verleugnung der eigenen Kultur findet man ja bei allen Minderheiten in Ungarn, in Österreich – überall. Aber wenn man es dir halt ansieht, und natürlich sieht man es uns an, welcher Abstammung wir sind, ist es schwierig mit der Assimilierung. Ich habe lange Zeit mit meiner Abstammung sehr gehadert, aber da bin ich auch kein Sonderfall.
Eine bessere Armut
War es anders, als ihr noch in Nordungarn lebtet?
Absolut. Dort ist das Romasein kein Problem, auch heute nicht. Weil es einfach sehr viele von uns gibt. Man ist akzeptiert, in die Dorfgemeinschaft mehr oder weniger eingebunden. Hier an der österreichischen Grenze wird man mit Argwohn betrachtet und gleich mal angezeigt. Hier kommt man auf keinen grünen Zweig, wenn man nicht in Österreich arbeitet. In meiner alten Heimat, in Nordungarn, geht es den Roma, besonders wenn sie einen Garten haben, relativ gesehen um einiges besser. Es ist eine bessere Armut.
Wie ist es dir gelungen, aus der Armut auszubrechen?
Entschuldige, dass ich schmunzle. Ist es mir ja nicht. Nachdem ich in Budapest einige Zeit obdachlos war – wirklich auf der Straße schlafen musste ich aber nie –, hat einer meiner Söhne gesagt, ich könne zu ihm nach Szombathely kommen. Jetzt wohne ich in einer 25m2-Sozialwohnung, in einem Plattenbau. Die Ironie des Schicksals ist, dass das einzige Fenster genau auf das alte „Zigeunerviertel“ blickt, an dessen Stelle jetzt ein Einkaufszentrum steht. Ich bin dorthin zurückgekehrt, wo ich aufwuchs. Nach der Matura hab ich hier an der Hochschule in der Informatikabteilung als Mädchen für alles gearbeitet. Ich hatte kein Geld zum Studieren, habe aber dort viele Dinge gelernt, die damals erst wenige konnten. Homepagedesign zum Beispiel. Damit hab ich später viel Geld verdient. Übrig geblieben ist nichts. Erst die Scheidung, und später haben meine Geschwister Schulden auf meinen Namen gemacht. Ich hätte sie anzeigen können, aber das macht man nicht. Wir Roma machen das nicht.
Vom Schreiben, das heute ja dein Beruf ist, war noch überhaupt nicht die Rede. Wie ist es dazu gekommen?
Das Schreiben war für mich Ausgleich, Abwechslung zur rigiden Fließbandarbeit des Programmierens. Zuerst kritzelte ich nur für mich herum, später traute ich mich dann auch schon, einmal etwas an Zeitschriften einzuschicken, und das wurde zum Selbstläufer. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Bücher von mir schon erschienen sind. Es sind doch einige.
Im falschen Bus
Für deine Erzählung „Zigeunerzeiten“ hast du damals, mit 25 Jahren, einen Preis gewonnen, den Preis der italienischen Roma-Zeitschrift „Thèm Romanó“. Bist du also ein Roma-Schriftsteller?
Was ist ein Roma-Schriftsteller? Wenn man dazu die entsprechende Abstammung haben muss, dann bin ich einer. Wenn man in Romanes schreiben muss, bin ich keiner. Wenn jedoch die Themen und die Ideenwelt, Tabus, Verhalten, die Tradition des Erzählens einen Roma-Schriftsteller ausmachen, würde ich sagen, dass ich auf jeden Fall einer bin. Dieser erste Preis war nicht beispielhaft für die späteren. Dieser Preis hat es mir aber zehn Jahre lang unmöglich gemacht, Prosa zu schreiben. Ich wollte nicht der „Zigeunerschriftsteller“ werden, den man als Ausstellungsstück herumreicht, darum habe ich auf Lyrik umgesattelt. Treffender wäre zu sagen: Ich habe mich hinter der Lyrik versteckt, obwohl mir die Prosa viel mehr liegt. Später erhielt ich allerlei Preise und Stipendien, die überhaupt nichts mit dem Romasein zu tun hatten. Ich denke, man sollte keinen Unterschied zwischen Roma- und Gadsche-Schriftstellern machen, sondern eher zwischen guten und schlechten.
Du arbeitest derzeit am „Roma-Epos“. Was kann ich mir darunter vorstellen?
Die Idee ist mir gekommen, als ich mich einmal in Kroatien verirrte. Ich bin in den falschen Bus eingestiegen und war dann irgendwo im Nirgendwo. Ich traf auf eine kleine Gruppe von Roma, die mich über die Nacht aufnahm. Und damals kam mir der Gedanke, dass es schön wäre, eine gemeinsame große Erzählung zu haben, die vom Balkan bis Skandinavien, vom Kaukasus bis Portugal erzählt und weitergegeben würde, etwas, das uns Roma zusammenfasst und zusammenhält.
Das Interview führte Clemens Prinz.
Tamás Jónás wurde 1973 in Nordungarn geboren. Er war Arany-János-, Artisjus-, Soros- und Herder-Stipendiat, Writer in Residence in Wien, erhielt ein Visegrád-Stipendium und zuletzt ein Stipendium der Ungarischen Kunstakademie für die Arbeit an seinem Roma-Epos. Auf Deutsch sind erschienen: „Als ich noch Zigeuner war“ (Kortina Verlag, Wien 2006) und „35: Erzählungen und Gedichte“ (Büro Abrasch, Wien 2008).
Dieses Interview erschien zuerst in dROMa, 54/2018.