Am 23. Oktober begeht Ungarn einen der drei Staatsfeiertage: dieser erinnert an die Revolution von 1956 und die Ausrufung der Republik am 23. Oktober 1989. Dieses Jahr werden sich die Staatsfeierlichkeiten anscheinend aber wohl um die „Rede von Őszöd“ und den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány drehen. Dazu bringt der Hausproduzent der regierenden Fidesz, Gábor Kálomista mit seiner Mitproduzentin Dorottya Helmeczy pünktlich zum Nationalfeiertag unter dem Titel „Elk*rtuk“ einen Film in die Kinos (Regie: Keith English). Manche Bürgermeister planen Busfahrten zum Kinobesuch, bzw. enthalten die von der regierungsnahen CÖF (Forum der Zivilen Vereinigung) organisierten Fahrten zu den Feierlichkeiten bzw. der Festrede des Ministerpräsidenten Viktor Orbán auch einen Kinobesuch.

Bei dieser Rede aus dem Jahr 2006 geht es um eine Antwort des wiedergewählten Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány auf einem Fraktionstreffen der Ungarischen Sozialistischen Partei kurz nach der Parlamentswahl von 2006. Beim Treffen ging es auch um den tatsächlichen Zustand des Staatshaushaltes, der sofortige Einsparungen in der Höhe von Hunderten von Milliarden Forint erfordere, worüber sich zahlreiche Politiker nicht im Klaren waren. Auf die während der Diskussion aufgeworfenen Fragen und die Befürchtungen, wegen der nötigen Sparmassnahmen bei den Kommunalwahlen im Herbst 2006 abgewählt zu werden, antwortete Ferenc Gyurcsány mit dieser ominösen und ziemlich emotionalen Rede.

Die „Lüge” bezieht sich auf den Zustand des Budgets und auf die während der Kampagne abgegebenen Versprechen, z.B. Renten und Familienzulagen zu erhöhen, was auch die heftigen Reaktionen der Bevölkerung erklärt: schliesslich lässt sich niemand gerne vorwerfen, offensichtlichen Lügen aufgesessen zu sein und die Stimme an den Meistbietenden verschachert zu haben. Geändert hat sich auch seither nicht viel: im nächsten Jahr stehen Parlamentswahlen an, und die regierende Fidesz hat schon in Aussicht gestellt, Eltern die 2021 eingezahlten Einkommenssteuern zurückzuzahlen (wobei Mütter mit 4 Kindern seit Kurzem sowieso lebenslang steuerbefreit sind) und Unter-25-Järigen die Einkommenssteuern zu erlassen.

Bei der „Őszöder Rede“ handelt sich um eine freie, nicht vorab niedergeschriebene, vertraulich gehaltene Rede. Sie wurde (offiziell) aufgezeichnet, und einige Monate später, im September, kurz vor den Kommunalwahlen, wurden Auszüge daraus gleichzeitig verschiedenen Medien zugeschickt. Am darauffolgenden Abend und in den Wochen danach haben sich Gruppen um Fussballultras in Budapest nächtliche Strassenschlachten mit der Polizei geliefert, die darauf völlig unvorbereitet und dementsprechend überfordert war (Strassenschlachten hatte es in Ungarn seit Jahrzehnten nicht gegeben), während sich laut Umfragen die Meinungen darüber teilten, ob Gyurcsány zurücktreten solle oder nicht. Gyurcsány veröffentlichte kurz nach der Enthüllung die Abschrift der gesamten Rede, die aber wohl kaum jemand gelesen hat. Die Rezeption der Rede in der Gesamtbevölkerung basiert auf einigen wenigen kurzen Zitaten mit vulgären Ausdrücken. Deshalb ein kurzer Exkurs dazu: Laut Textverarbeitungsprogramm zählt der gesamte Text 2944 Wörter, davon sind gut 30 Wörter vulgär, einschliesslich der dazugehörenden Artikel und getrennt geschriebenen Verbpräfixe. „Böszmeség“ habe ich nicht mitgezählt – ein „böszme“ ist ein Oger, das davon abgeleitete „böszmeség“ „etwas Monströses“. Sieben der Wörter gehen auf das Konto „hétszázát“ („siebenhundert“), das wohl ein Euphemismus für „hétszentségit“ („sieben Sakramente“) sein dürfte. Im Text kommt auch „Scheisse“ vor (z.B. in der Form „ich scheisse drauf“), aber im Ungarischen wird man gern mit Sex vulgär: „bassza meg“ (im Text zwei Mal) und „kibaszott“ (1) kommen in der Alltagssprache mit einer Häufigkeit vor, die die des deutschen „Scheisse“ eher übersteigen dürfte, und „kurva“ („Hure“) wird sowohl als Adjektiv als auch als Modaladverb benutzt (dies kennen die Schweizer Dialekte ebenfalls: „huere guet“=“wahnsinnig gut“). Das Verb „elkúrtuk“ (vom gleichen Wortstamm, mit der Bedeutung „wir haben es vermasselt“), das den Titel für den oben erwähnten Film geliefert hat, kommt im Text einmal vor. Ungarn als „kurva ország“ zu bezeichnen ist zwar hervorragend geeignet, diejenigen zu empören, die Ungarn als vom heiligen Stefan gegründete und dem Schutz der heiligen Mutter Gottes anvertraute sakrale Institution verstehen, schliesst aber Verbundenheit und Liebe nicht aus, gerade auch weil diese Ausdrucksweise eben so alltäglich ist – der „Empörungsfaktor“ eines Ausdrucks hängt von der Sprache und den Umständen ab. Der Text geht jedenfalls über die paar vielzitierten Vulgarismen hinaus, und wenn er schon in der Kommunikation der regierenden Fidesz seit 15 Jahren eine so zentrale Rolle einnimmt, sollten wir uns doch die Zeit nehmen, ihn auch mal zu lesen:

Der vollständige Text der Rede von Őszöd:

Was ich euch hier und heute habe sagen können, ist natürlich nicht unser ganzes Programm. Dieses kann natürlich eine Reihe Dinge nicht beinhalten, die getan werden müssen, und es kann die Vielschichtigkeit der nötigen Kommunikation nicht widergeben, die wir für den Erfolg brauchen. Gleichzeitig danke ich euch für eure Warnungen und Ratschläge.

Wenn ich ehrlich zu euch bin, kann ich euch sagen, dass wir voller Zweifel sind. Dass wir hinter dem Selbstbewusstsein hin- und hergerissen sind. Ich weiss ganz genau, dass all das, was wir tun, nicht perfekt sein wird. Dass es eine Reihe von Dingen gibt, bei denen ich nicht weiss, was der sechste oder auch nur der dritte Schritt sein wird. Ich kenne die ersten beiden. Und wir müssen diese Angelegenheiten gleichzeitig vorwärtsbringen, die Zusammenarbeit zwischen ihnen aufrechterhalten, die Redlichkeit, die Unterstützung des Koalitionspartners sichern, die Leiter der einflussreichsten Blätter darauf vorbereiten, und die Meinungsmacher, was sie erwartet. Wir müssen sie miteinbeziehen. Lernen, nicht bei jedem Schritt aufzuseufzen, und weiterzugehen.

Natürlich kann ich nicht die Konsequenzen von jedem Schritt ausrechnen. Das können wir nicht. Soviel Kapazität haben wir nicht. Die Wahrheit ist, das ganze Team arbeitet nur von morgens um 7 bis in die Nacht, und über einen gewissen Punkt hinaus lässt es sich nicht vergrössern. Wir können uns nicht mit mehr als 12-15 Leuten um einen Tisch setzen, an dem wir uns mit Leuten von der Regierung, den Ministerien und Fachleuten einigen müssen. Das geht nicht. Unsere Fähigkeiten reichen bis hier, Leute.

Wir haben getan, was in diesem einen Monat getan werden konnte, und was in den Monaten davor im Geheimen getan werden konnte, so, dass in den letzten Wochen des Wahlkampfs keine Papiere an die Öffentlichkeit gelangen, die zeigen, worauf wir uns vorbereiten, das haben wir getan. Wir haben das Geheimnis gehütet, wobei wir wussten, und ihr wusstet es auch, dass wenn wir die Wahl gewinnen, wir danach mit vollen Kräften anpacken müssen, dass wir noch nie so ein Problem hatten. Seit dem letzten Sommer haben wir die politische Einheit so gehütet, und dahinter die fachpolitische Einheit, wie noch nie in den letzten Jahren. Oder wie überhaupt noch nie. Natürlich lässt das, was wir wissen, die Detailliertheit unserer Papiere zu wünschen übrig. Ja. Ihr habt recht. Wir wissen genau, dass da eine Menge Risiken sind. Wenn ihr mir sagt, wir müssen aufpassen, weil doch das Verfassungsgericht Sachen zurückschicken kann, wir wissen das. Es macht nichts, dass ihr das sagt, aber glaubt mir, wir wissen das. Es ist ein sehr enges Team, dass hinter Jóska Petrétei [Verfassungsrechtler József Petrétei, damals Justizminister] arbeitet – weil wir in dieser Phase das ganze Ministerium noch nicht ranlassen können – fünf-sechs-sieben Leute. Von morgens bis abends. Im wahrsten Sinne des Wortes. Damit es keinen Ärger gibt. Wir treiben uns an gewissen Punkten gegenseitig in den Wahnsinn, damit wir das nötige Geld zusammenkratzen. Und ich selbst, was ihr bei mir früher während eines Jahres nicht gesehen habt, im letzten Monat habe ich drei Mal angefangen, zu brüllen, weil ich die Anspannung bei den Verhandlungen nicht mehr ausgehalten habe. Nicht mit den Kollegen, sondern bei den politischen Verhandlungen, dass sie sich damit endlich verpissen sollen. Wir müssen vorwärts.

Wir haben nicht viel Auswahl. Und zwar darum nicht, weil wir es vergeigt haben. Nicht nur ein bisschen, sondern sehr. In Europa gibt‘s nicht noch ein Land, das so etwas Monströses gemacht hat, wie wir. Man kann das erklären. Während der letzten anderthalb-zwei Jahre haben wir offensichtlich gelogen. Es war völlig klar, dass das, was wir sagen, nicht die Wahrheit ist. Die Möglichkeiten des Landes sind so sehr überschritten, dass wir uns das früher nicht einmal vorstellen konnten, dass die gemeinsame Regierung der Ungarischen Sozialistischen Partei und der Liberalen so etwas machen. Und unterdessen haben wir vier Jahre lang nichts getan. Nichts. Ihr könnt mir keine einzige bedeutende Regierungsmassnahme nennen, auf die wir stolz sein können, abgesehen davon, dass wir am Ende die Regierung aus dem Dreck gezogen haben. Nichts. Wenn wir dem Land darüber Rechenschaft ablegen müssen, was wir in diesen vier Jahren gemacht haben, was sagen wir dann? Natürlich ist diese Sache nicht schön, ruhig und detailliert aufgebaut. Nein. Nein. Sie wurde in einen verrückten Galopp geschrieben, weil wir eine Weile lang gar nichts machen durften, damit nichts herauskommt, und jetzt müssen wir es ums verrecken machen, dass wir fast dran krepieren. Und dann werden wir langsam stolpern. Weil wir dieses Tempo nicht schaffen. So sieht‘s aus. Unterdessen müssen wir uns mit den Freien Demokraten einigen, und die Ministerfragen – ihr wisst Bescheid.

Schaut. Es ist so, dass wir kurzfristig keine Wahl haben. Jani Veres [Agraringenieur und Ökonom János Veres, damals Finanzminister] hat recht. Wir können hier noch ein bisschen herumeiern, aber nicht lang. Der Tag der Wahrheit ist schnell gekommen. Die göttliche Vorsehung, die Liquidität der Finanzmärkte und hunderte von Tricks, die ihr natürlich nicht zu kennen braucht, haben geholfen, dass wir das überleben. Es geht so nicht weiter. So nicht. Und natürlich können wir noch sehr lange herumstudieren, und verfickt viele Analysen erstellen, welche Schichten der Gesellschaft das wie trifft, das kann ich euch sagen. Wir können nicht noch wochenlang herumanalysieren, Leute, das können wir nicht. Wir müssen am ersten Tag sagen, was getan werden muss, damit daraus noch in diesem Jahr Korrekturen werden, damit bestimmte Steuergesetzte im September in Kraft treten können. Wir können noch ein paar Wochen analysieren, und dann kommen welche, die vom Fach sind und sagen, sie haben das schon analysiert. Ungarn ist abgeschrieben. Darum, und ich schicke voraus, dass das, was wir tun, gar nicht perfekt ist, darum kann ich euch keine Version B vorschlagen.

Wer im Umfeld der Ungarischen Sozialistischen Partei in makroökonomischen Fragen massgebend ist von Kornai [János Kornai, international angesehener Ökonom, Prof. emeritus der Corvinus Universität und der Harvard University] bis Bokros [Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Lajos Bokros, Finanzminister und Namensgeber des Bokros-Pakets von 1995], von Békési [László Békési Ökonom, ehem. Finanzminister] bis Surányi [György Surányi, Ökönöm, in den 1990-ern Präsident der Ungarischen Nationalbank, danach Professor und Regionalchef bei Intesa San Paolo], von Vértes [András Vértes, Ökonom] bis zu ich weiss nicht wem, mit denen haben wir das durchdiskutiert, durchgelitten, durchgeschrien. Und ich muss euch sagen, es gab sehr viele Vorschläge. Ha, zum Teufel. Und dann stellt sich heraus, dass sich sogar die Grössten, die am Angesehensten, um hunderte von Milliarden irren. Wir sollen eine allgemeine Immobiliensteuer einführen. Wisst ihr, wie viel Immobiliensteuer wir einnehmen würden, wenn wir sämtliche Immobilien über 5 Millionen Forint besteuern würden? Ich habe einen niedrigen Grenzwert angegeben, nicht 100 Millionen, fünf. Und ausserdem überlassen wir den Gemeinden noch die 52 Milliarden aus der kommunalen Steuer, weil wir das ihnen geben müssen, das sind jetzt ihre Einnahmen. Das Saldo von all dem beträgt weniger als 20 Milliarden Forint. Da kommt Sándor Demján zu mir, der vielleicht einflussreichste Geschäftsmann des Landes. Laut schallend: Mein lieber Feri, ich lese im Sárközy-Aufsatz, dass wir, wenn wir alle staatlichen Einrichtungen schliessen, 7-800 Milliarden Forint einsparen könnten. Und ich: Lieber Sanyi, hast du sie noch alle? Wenn du wenigstens rechnen könntest, Gott segne dich. Dann kommt unser Freund Gyuri Surányi, dass er herausgefunden hat, wie der Mindestlohn steuerfrei bleiben kann und die Gerechtigkeit trotzdem gewahrt wird. Und wir arbeiten lange daran. Dann schickt er uns endlich seine Papiere, auf denen er es ausrechnet, und es stellt sich heraus, dass alles schön und gut ist, nur weiss er nicht, dass es in Ungarn eine Steuergutschrift gibt, und die müsste auch angepasst werden, und das sind 230 Milliarden insgesamt. Ach? Tja, wenn die 200 Milliarden schon im Paket sind, dann hat er auch keine Lösung. Überhaupt, es gibt viele gute Lösungen, solange man nicht rechnen muss. Wenn man das ausrechnen muss, ist man am Ende.

Überhaupt gibt es viel Kritik, dass das System nicht abgerundet, nicht konsistent genug ist, jeder hat Ideen, was wir rausnehmen sollen, damit der Rest konsistenter ist, und dann ist da plötzlich nur noch ein Drittel von dem Geld da, dass wir einnehmen müssen. Ach? So kann ich auch konsistent sein. Ja, so kann ich auch ein konsistentes System machen. Mein Problem ist nur, dass wir nicht 50 Milliarden zusammenkratzen müssen, sondern ich sag nicht wie viel. Das ist das Problem. Ausserdem muss das irgendwie so gemacht werden, dass es dem, was wir langfristig machen wollen, keinen Strich durch die Rechnung macht.

Leute. Wir sind nicht perfekt. Überhaupt nicht. Wir werden‘s auch nicht sein. Ich kann euch nicht sagen, dass alles gut wird. Was ich euch sagen kann, ist das, was ich euch im letzten Jahr gesagt habe. Dass was anständig getan werden kann, was wir mit unseren Fähigkeiten tun können, weil wir keine Spielchen spielen und weil wir unsere Energie nicht darauf verwenden, gegeneinander zu spielen, weil es keine Eigeninteressen gibt, die die Offenheit unter uns nicht aushalten würden, weil ich euch nicht dazu nutzen will, etwas zu erledigen [?].

Das Team, dem ihr die Leitung dieser Seite anvertraut hat, dieses Team kann ungefähr das hier leisten. Es kann ein ungefähres Programm liefern. Vielleicht gibt‘s ein anders Team, das etwas anderes kann. Wir können nicht mehr als das hier, und nichts besseres. Wir werden dazu nicht fähig sein. Auch nicht, wenn wir verrecken. Wir leisten zusammen eine grosse Arbeit, eine anständige Arbeit. Wir müssen es tun. Ich spreche nicht vom Neuen Ungarn [operationelles Programm für die Verwendung von EU-Mitteln von 2007-2013], von Investitionen, von den Ungarn im benachbarten Ausland, von den Beziehungen zu den Kirchen und tausend anderen Sachen, weil die verglichen mit dem Grossen nicht die wichtigsten sind. Wir werden zu jedem inhaltlich bedeutende und tiefgreifende Vorschläge haben. Der eine oder andere davon wird Überraschung bereiten. Aber verglichen mit dem Ganzen, über das wir hier unter uns entscheiden müssen, sind sie nicht das Wichtigste. Reform oder Versagen. Es gibt nichts Anderes. Und wenn ich von Versagen spreche, meine ich Ungarn, die politische Linke, und, ich bin ganz ehrlich zu euch, mich.

Und ich will euch jetzt ein einziges Mal kurz etwas sagen. Ich werde das höchstens noch einmal sagen. Es ist fantastisch, Politik zu machen. Fantastisch. Fantastisch, ein Land zu leiten. In den letzten anderthalb Jahren [Gyurcsány wurde im Herbst 2004 nach dem Rücktritt von Péter Medgyessy zum Ministerpräsidenten gewählt] konnte ich persönlich das darum machen, weil mich eine Sache motiviert und beflügelt: der Linken den Glauben zurückzugeben, dass sie es schaffen kann, dass sie gewinnen kann. Dass sie in diesem verdammten Land nicht mit gesenktem Kopf herumlaufen muss. Dass sie sich wegen Viktor Orbán und der Rechten nicht in die Hose scheissen muss, und dass sie endlich lernen soll, sich nicht an ihnen, sondern an der Welt zu messen. Das hat mir den Glauben gegeben, dass es das Wert ist. Das war eine grosse Sache. Ich hab‘s geliebt. Es war der beste Teil meines Lebens. Jetzt ergibt es sich, Geschichte zu schreiben. Nicht für die Geschichtsbücher, da scheiss ich drauf. Es interessiert mich überhaupt nicht, ob wir oder ich persönlich drin stehen werden. Überhaupt nicht. Werden wir etwas Grosses tun? Sagen wir: zum Teufel, da waren einige, die sich getraut haben und nicht darüber herumgeeiert haben, wie die Spesen abgerechnet werden, verfickt noch mal. Da waren einige, die nicht darauf herumreiten, ob sie dann in der Komitatsselbstverwaltung einen Platz kriegen oder nicht, sondern die verstanden haben, dass es in diesem verdammten Land um etwas anderes geht. Dass sie verstanden haben, dass es sich hier am Anfang des 21. Jahrhunderts darum lohnt Politiker zu sein, weil wir eine andere Welt schaffen können. Nur darum. Deinen Lebensunterhalt kannst du dir auch anderswo verdienen.

Ich weiss, dass ich leicht daherrede. Ich weiss es. Ihr braucht es mir nicht dauernd vorzuhalten. Aber es lohnt sich nur darum. Ich bin fast daran krepiert, dass ich anderthalb Jahre lang so tun musste, wie wenn ich regiert hätte. Stattdessen haben wir morgens und nachts und abends gelogen. Ich will das nicht weiter machen. Entweder, wir tun es und ihr habt jemanden dafür, oder andere tun‘s. Ich werde nie ein einziges Interview geben, wenn ich fertig bin, falls wir im Streit auseinandergehen. Nie. Ich werde der ungarischen Linken nie schaden. Nie. Aber es lohnt sich nur es zu tun, wenn wir uns an die grossen Dinge wagen. Alles erklären und dann in Ausschüssen ewig herumsitzen und neue Arbeitsgruppen bilden, damit sich dann herausstellt, dass wir uns nie auf auch nur ein einziges Gesetz einigen können, weil immer nur die alten Kompromisse geschlossen werden, die im Grunde genommen nur Kompromisse aufs Nichtstun sind, damit es so bleibt, wie‘s war. Weil alles andere die Interessen von irgendwem verletzt. Dazu braucht ihr eine andere Puffmutter. Das wird meine Begeisterung nicht ändern, überhaupt nicht. Ich werde nicht täglich gehen. Gyula Horn [Ministerpräsident 1994-98] hatte auch so einen Minister, der dauernd zurücktreten wollte. Ich hatte auch einen solchen Vorgänger als Ministerpräsidenten, der dauernd sagte, dass er, dass ich nicht so einer bin. Solange Kraft drin ist und wir vorwärts gehen, so lange ja, und dann werde ich ganz still weggehen. Für etwas anderes loht es sich nicht. Jeder muss für sich entscheiden, ob er für die 4-500 Tausend Forint macht, was verdammt wichtig ist, vor allem, wenn man keinen anderen Beruf mehr hat, nur diesen, ich weiss. Ob er fähig ist, über die Geschichte der letzten 15 Jahre hinauszuwachsen und neue […] zu schliessen, oder ob er denkt, das sind auch nur wieder weitere vier Jahre, zum Teufel, bisher haben wir die immer überlebt, dann werden wir es jetzt auch. Wir hatten schon genug Ministerpräsidenten, den hier bringen wir auch hinter uns. Wir bleiben sowieso immer. Möglich. Und ich sag euch auch, das ist ein legitimes Argument, und es verletzt mich nicht, überhaupt nicht, gar nicht. In dieser Fraktion gibt es mehr als einen, der als Ministerpräsident geeignet ist. Ich sage, holt alle tief Luft, trinkt verdammt viel Wein […]

[In der Abschrift ist hier eine Lücke, da das Tonband gewechselt wurde, das Original kann ich nicht rekonstruieren – Anm. F[erenc].Gy[urcsány].]

können wir uns nicht einigen. Weil wenn alle hundertneunzig [Abgeordnete] dasselbe sagen, wie in den letzten Jahren, dann wird genauso nichts geschehen, weil wir uns wieder nicht einigen können. Verfickt, ich bin zwar nicht einverstanden, aber ich lass das mal gut sein. Sie tun‘s zum ersten Mal. Und ein anderes Mal, […] lass gut sein, lass sie machen. Es ist keine Reform, wenn sich nur die Anderen ändern sollen. Es ist keine Reform, sich hinzustellen und dem Volk dieses Mantra vorzubeten. Reform ist, wenn auch wir gewillt sind, all das, was wir bisher gedacht und gemacht haben, an einer Reihe von Punkten neu zu bewerten. Aber die Aufgabe der ersten Monaten, die Korrektion, das ist einfach eine Zwangssituation, das muss ich gestehen. Ihr irrt euch, wenn ihr glaubt, ihr hättet eine andere Wahl. Ihr habt keine. Ich auch nicht. Heute haben wir höchstens die Wahl, dass wir versuchen zu beeinflussen, was geschieht, oder alles wird über uns zusammenbrechen. Unsere Lösung ist sicher nicht perfekt, da habt ihr recht, sicher nicht, aber wir haben keinen besseren Vorschlag. Einen, über den wir uns mit dem Grossteil der Fachleute einig sind, den die Märkte akzeptieren, der vom Koalitionspartner angenommen wird. Bei uns sagen die paar Leute an der Spitze, die das machen, von Béla zu Jani Veres, von Péter Kiss [Ingenieur, damals Minister] bis Ildikó [Lendvai, damals Fraktionsvorsitzende], von Imre Szekeres [damals Verteidigungsminister] bis Hiller [István Hiller, Geschichtswissenschaftler, damals Bildungsminister], und zählen wir mich mal mit, wir glauben mehr oder weniger, das das ungefähr richtig ist. Weil sie alle davon überzeugt sein müssen. Alleine, einzeln können wir auch anders, aber wir sind nicht einzeln da, sondern ein Dutzend oder so von uns sitzen zusammen an einem Tisch, und das müssen wir akzeptieren.

Und ich denke, das kann man machen. Ich denke, es wird Konflikte geben, ja, Leute, es wird welche geben. Es wird Demonstrationen geben. Man kann vor dem Parlament demonstrieren. Früher oder später werden sie genug davon haben und nach Hause gehen. Aber das können wir nur dann durchziehen, wenn ihr an die Kernpunkte glaubt und wenn wir uns über die Kernpunkte einig sind. Wenn wir den Konflikten untereinander aus dem Weg gehen, wenn wir Angst haben, Interessen zu verletzen, dann dürfen wir das nicht in Angriff nehmen, das dürfen wir nicht. Ich bestehe auf nichts. In dem Sinn, dass ich nicht etwas Konkretes im Kopf habe, dass im Gesundheitswesen das hier sein muss, und jenes dort… Überhaupt nicht. Ich koordiniere diese Gespräche, ich bin der Mediator, ich öffne die Leute, damit sie aussprechen, was in ihnen ist. Ich diktiere nichts. Das stimmt nicht. Wenn ich was diktiere, dann dann, wenn sie stehen bleiben wollen und sich nicht einigen wollen, dann sage ich, los, weiter, zum Teufel. Das halte ich für meine Aufgabe. Und wenn wir uns einig sind, dann lasse ich nicht zu, dass sie stehen bleiben. Es geht nicht darum, dass ich ein von A bis Z niedergeschriebenes Drehbuch für Ungarn habe und sage, das quetsche ich aus euch heraus. Verdammt nochmal! Ich habe ein A bis Z-Drehbuch dafür, wie wir die unglaubliche Energie, die bei den Sozialisten da ist, dafür nutzen können, das Land zu verändern, dass sie sie reinstecken sollen, dass sie endlich ihre Zaghaftigkeit überwinden, und ihre alten Wahrheiten. Dafür hab ich eins. Und wenn ich es nicht aushalte, dann werde ich mal laut. Ich habe nichts Persönliches an dieser Sache, gar nichts. Es hat mir viel bedeutet, das, was ich in den letzten anderthalb Jahren tun durfte. Meine persönliche Sache ist es, dass wir dieses verdammte Land ändern, denn wer ausser uns wird das tun? Viktor Orbán und sein Team? Oder die Version C: es geschieht nichts. Man kann eine Weile lang noch so einfach vor sich hinleben. Natürlich ist unser Gesundheitswesen eine komplizierte Angelegenheit. Aber wer den Fuss in eine Gesundheitseinrichtung setzt, der weiss, dass es auf einem Haufen Lügen gebaut ist. Natürlich ist es wahnsinnig schwer, im Bildungswesen etwas zu bewegen. Aber ja, wir sehen, dass es das Wissen nicht gleichermassen an alle weitergibt. Einer von euch, ich glaube, Gergely Arató [Lehrer, damals Staatssekretär im Bildungsministerium], hat gesagt, es sei doch bitte die grösste aller Ungerechtigkeiten, dass das ungarische Bildungssystem die sozialen Ungleichheiten nicht ausgleicht, sondern verstärkt, und die Schüler auch noch segregiert. Ja, das ist das wirklich grosse Problem, das ist wirklich schlimm. Und es ist schlimm, dass wir die kostenlose staatliche Bildung denen geben, die aus den besten Familien stammen. Verglichen damit ist es kein Skandal, 3 Prozente zahlen zu müssen. Wenn es einen gesellschaftlichen Skandal gibt, dann der, dass die oberen Zehntausend sich auf Staatskosten reproduzieren. Und wir wagen es nicht, das auszusprechen und haben Schiss zu sagen, dass sie übrigens bitte die 7 Prozent zahlen sollen. Machen wir uns nichts vor. Das ist der wahre Skandal. Der wahre Skandal ist der, über den Laci [László Imre, Arzt, Gesundheitspolitiker] geredet hat, dass die Qualität der ärztlichen Dienstleistungen, die die Roma erhalten, ein Zehntel von der ist, die ich bekomme. Und seit meine Mutter, seit der Name meiner Mutter, die Katus Gyurcsány heisst, in Pápa bekannt ist, seither bekommt sie auch etwas besseres, verdammt nochmal! Sie wusste nicht, wieso. Ist das Gesundheitswesen besser geworden, mein Junge? Einen Dreck ist es, Mama. Die Wahrheit ist, dass die deinen Namen kennen. Das ist ein Skandal. Verglichen damit ist, gesellschaftlich gesehen, die Praxisgebühr nichts. Das ist kein Skandal, sie ist politisch unangenehm, und es ist unangenehm, wenn man sie zahlen muss. Denn politisch kann sie tiefgreifende Folgen haben. Aber diese Folgen betreffen ehrlich gesagt höchstens uns, wenn wir blöd sind. Die gesellschaftlichen Folgen, die betreffen alle. Wir trauen uns darum nicht, eine Reihe offensichtlicher gesellschaftlicher Lügen in Angriff zu nehmen, weil wir vor den politischen Folgen für uns Angst haben.

Aber meine Damen und Herren! Das ist das Problem von ein paar hundert Leuten und ihren Familien, unser Problem. Aber man wird nicht darum Politiker, weil man davon so verdammt gut leben kann. Weil wir schon vergessen haben, wie es ist, Autolackierer zu sein. Sondern, weil wir diese Probleme lösen wollen. Übrigens ist es gerade eine Erfahrung der letzten vier Jahre, und der Regierung von Gyula Horn, dass Leute nicht daran zu scheitern pflegen, dass sie etwas tun, oder dass sie nichts tun. Zum Teufel, woran dann? Wir müssen vorwärts gehen. Man muss wissen, was man tun will. Die ersten paar Jahre werden furchtbar sein, natürlich. Es ist völlig irrelevant, ob 20 Prozent der Bevölkerung für uns stimmen werden. Im letzten Sommer haben laut Szonda [heute: Ipsos] zum ersten Mal in den letzten acht Jahren von 100 Leuten nur 18 gesagt, dass sie für uns stimmen werden. Im letzten Sommer, Leute! Ein Jahr später haben wir gewonnen. Wie wäre es, wenn wir unsere Popularität nicht wegen unseren Hahnenkämpfen verlieren würden, sondern weil wir grosse gesellschaftliche Sachen machen. Und es ist kein Problem, wenn wir für eine Weile unsere Unterstützung in der Gesellschaft verlieren. Die werden wir zurückerobern. Weil man es verstehen wird. Und dann können wir ruhig aufs Land ziehen, weil wir es geschafft haben, zum Teufel. Wäre das nicht für alle besser? Sie haben recht. Aber für ihn und für sie und jenen, und es wurden in diesem verrottenden Land endlich wieder Studentenwohnheime gebaut. Darum geht‘s in der Politik. Und nicht darum, wer von uns Bezirksbürgermeister wird und mit wie vielen Stellvertretern. Das ist auch wichtig, ich weiss, ich bin nicht naiv. Aber das ist keine der hundert wichtigsten Angelegenheiten des Landes. Und wir sind es, die entscheiden, womit wir uns befassen, wir. Und dieses Land verdient es, denke ich, und wir auch, dass wir solche Dinge tun.

Also ich kann euch nur sagen, halten wir inne und packen wir‘s an. Ihr habt in vielem recht mit euren Warnungen und Bedenken, und zu den Einzelheiten. Ich kann nur sagen, ich spiele keine Spielchen, weder so noch so. Wir tun unsere Aufgabe. Solange wir zügig vorwärts gehen können, solange gehen wir. Wenn man nicht vorwärts kommen kann, und ihr erklärt, dass ja, aber… Dafür braucht ihr mich nicht, finde ich. Dazu braucht es jemand anderen. Und ich schreib dann ein verdammt gutes Buch über die ungarische Linke.

Leute!

Was? Muss ich noch was sagen, Ildikó [Lendvai]?“

Ungarischer Text: http://nol.hu/archivum/archiv-417593-228304
Als PDF:

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